Skip to main content

Anja Niedringhaus - Erinnerungen

Am 4. April 2024 jährte sich Anjas Tod zum 10. Mal. Für viele ihrer Kollegen, Freunde und Wegbegleiter war dies Anlass, ihrer zu gedenken, sei es durch persönliche Teilnahme am Gottesdienst und dem sich anschließenden »Tag der Begegnung« im FAN in Höxter oder im Bronx Documentary Center in New York oder durch eine Grußbotschaft. Das Gedenken hat weltweite Beachtung erfahren. Die Presse hat ausführlich berichtet:

In Erinnerung an Anja Niedringhaus

Vor zehn Jahren, am 4. April 2014, wurde die Fotografin Anja Niedringhaus im Verlauf einer Recherche im Süden Afghanistans erschossen. Sie war auch Mitglied des Vereins JhJ e.V.


Die Begegnung mit den Anderen

Rede anlässlich der Ausstellung von Bildern der Fotografin Anja Niedringhaus im Franz Hitze Haus, Münster, am 22. März 2016:

„Manchmal komme ich von dem, was ich fotografiere, krank am Herzen zurück, und die Gesichter der Menschen in ihrem Schmerz sind in mein Bewusstsein so scharf eingegraben wie auf meinen Negativen. Aber ich gehe wieder hinaus, weil ich der Überzeugung bin, dass es mein Auftrag ist, solche Bilder zu machen. Die reine Wahrheit ist das Wesentliche, und die ist es, die mich anrührt, wenn ich durch meine Kamera sehe.“

Margaret Bourke-White (1904-1971)

Gerne hätte ich auch mit Anja Niedringhaus einmal über dieses Bekenntnis von der  berühmten amerikanischen Fotoreporterin Margaret Bourke-White gesprochen. Bourke-White (1904-1971) verdanken wir viele Bilder vom Ende des 2. Weltkrieges, darunter auch erschütternde Aufnahmen von der Befreiung der Konzentrationslager in Buchenwald und Bergen-Belsen, die heute zur Ikonografie des XX. Jahrhunderts gehören.

Für mich blieb es immer ein Wunsch, denn Anja Niedringhaus habe ich persönlich nie kennengelernt. Seit vielen Jahren jedoch war sie Mitglied in unserer kleinen humanitären Nicht-Regierungs-Organisation (NGO)  „Journalisten helfen Journalisten“, dessen Ziele sie auch teilte.

„Der Einbruch der Wirklichkeit“, so der Titel eines Buches von Nevad Kermani, ist für JhJ bereits vor über zwanzig Jahren erfolgt.  „Journalisten helfen Journalisten“ wurde 1993 gegründet. Zu den ersten Opfern unter den  Korrespondenten auf  dem Balkan zu Zeiten der damals gerade ausgebrochenen Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien gehörte Egon Scotland von der „Süddeutschen Zeitung“. In Erinnerung an ihn, an die Jahre später (2014) in Afghanistan ermordete Fotografin Anja Niedringhaus und viele weitere in der Ausübung ihres Berufs getöteter und verfolgter Kolleginnen und Kollegen versucht JhJ heute weltweit in Zusammenarbeit mit anderen  NGO’s wie den „Reportern ohne Grenzen“, dem amerikanischen „Committee to protect Journalists“, dem englischen „Rory Peck Trust“, Journalistinnen und Journalisten, Fotografen, Bloggern und deren Angehörigen in den weltweiten Kriegs- und Krisenregionen zu helfen. Da Anja Niedringhaus  oft wie eine Getriebene von einem Kriegsschauplatz zum anderen flog, um dort Aufnahmen zu machen, war es nicht nur für mich schwer, sie einmal in Ruhe an irgendwelchen „friedlichen“ Orten zwischen Genf und einem deutschen Ort persönlich zu treffen.

Allerdings hatte ich einige Male einen Mail-Kontakt mit ihr, in dem sie mir ihre jeweiligen Aufenthaltsorte kurz mitteilte. Zuletzt hatte sie uns kurz vor ihrem Abflug nach Afghanistan ein von ihr aufgenommenes Foto aus dem irakischen Falludscha zur Veröffentlichung auf der Homepage von JhJ zur Verfügung gestellt. Erst jetzt, nach ihrem gewaltsamen Tod, bekommt diese unspektakuläre Mail einen ganz besonderen Wert.

Fotografen von ihrer Professionalität und Erfahrung sind in diesen Zeiten eines uns überflutenden, oft sprach- und handlungsunfähig machenden „Bilder-Tsunamis“ von großer Bedeutung. Auf Anja Niedringhaus konnte man sich da immer verlassen. Jede Art von Manipulation der Bilder war ihr wie jede Form von Helden-Ikonografie zuwider. Die Realität, die sie in ihren Bildern einfing, war und ist leider in vielen Weltregionen von Gewalt und kältestem Zynismus geprägt, wie man in vielen ihrer Fotografien bis zur Schmerzgrenze wahrnehmen kann.

Bilder, die so gut, professionell und von humanitären Ideen geleitet sind, wie das bei Anja Niedringhaus der Fall war, spiegeln die Wirklichkeit in ihrer ganzen Brutalität, Gewalt, Hoffnungslosigkeit und ihrem Schmerz, aber auch ihrer Schönheit, ihren Hoffnungen und kleinen Lebensutopien wieder. Ein besonderes Beispiel dieses „Niedringhaus-Blickes“ sind ihre Aufnahmen aus Afghanistan. Der Junge auf dem Kettenkarussell mit einem Spielzeuggewehr in der Hand,  die wunderbar gekleidete junge Frau mit einem Kind auf dem Arm und den Krücken im Hintergrund, die eine traumhaft schöne Landschaft durchquerenden Militärautos usw.

Vielleicht können uns gerade diese von Anja Niedringhaus mit ihren Aufnahmen manchmal unerträglich sichtbar gemachten Widersprüche so bewegen und erschüttern, dass wir uns zur „Weltverbesserung“ in der uns möglichen Form provozieren. Wie die Fotografin wissen auch die Betrachter, dass es uns nicht gelingen wird, diese Utopie einer „Weltverbesserung“ zu realisieren, aber trotzdem geben die Bilder von Anja Niedringhaus immer wieder den Mut, die Hoffnung nicht aufzugeben. „Hoffnung ist wie ein Pfad in der Wildnis. Am Anfang ist da nichts – doch wenn Menschen denselben Weg immer wieder gehen, entsteht ein Pfad.“, wie Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn, die beiden Weltkorrespondenten der New York Times in der Einleitung ihres wunderbaren Ermutigungbuches „Ein Pfad entsteht“ (München, 2015) schreiben.

Ob ihre Arbeit als Fotografin ihren Blick auf Kriege verändert habe, wurde Anja Niedringhaus in einem ihrer letzten Gespräche gefragt.

„Ja, sehr. Wir glauben im Westen immer noch, dass man Frieden mit Militär und Waffen herstellen kann. Aber damit erreicht man nichts. Ich bin zur größten Pazifistin geworden, seit ich in diesen Gebieten arbeite. Mit Panzern löst man keine Probleme.“

Jeder Künstler, jeder Fotograf versucht, seinen eigenen Ausdruck, seine unverwechselbare Handschrift, seinen Blick auf die Welt, seine Interpretation des Lebens zu finden. Und bei dieser Suche können Freunde, Lehrer, Vorbilder helfen.  Für viele Journalisten, vor allem für die „Weltreporter“, ist der Pole Ryszard Kapuściński ein großes Vorbild. Ich vermute, auch Anja Niedringhaus hat das eine oder andere Buch von ihm gelesen. An einer Stelle in dem von klugen Meditationen, Reflexionen, von genauen Beobachtungen und selbstkritischen Tagebuchaufzeichnungen nur so überquellenden, von Martin Pollack ins Deutsche übersetzten Buch von Ryszard Kapuściński „Die Welt im Notizbuch“ findet man die folgende Eintragung:

„Es ist wichtig, dass du dir die Fähigkeit des Erlebens bewahrst, dass es Dinge gibt, die dich in Erstaunen versetzen, dich erschüttern können. Es ist wichtig, dass dich nicht die schreckliche Krankheit der Gleichgültigkeit erfasst.“

Für Journalisten müsste diese Aufforderung so etwas wie die „Staatsräson“, besser gesagt, die „Professionsräson“ ihrer Arbeit sein. Gegen die, wie Kapuściński schrieb, „schreckliche Krankheit der Gleichgültigkeit“ schien Anja Niedringhaus ebenso beneidenswert immun zu sein wie gegen die unsere Wahrnehmungskultur so zerstörende Jagd nach dem Scoop, dem Effekt, dem Skandal, der Provokation. Kapuściński hat einmal die selbstkritische Demut gegenüber seinen eigenen Möglichkeiten und den Respekt vor dem Anderen als die ersten Gebote journalistischer Arbeit definiert. Ohne sie kann man nie das Vertrauen der Menschen gewinnen über die man schreibt oder wie im Falle von Anja Niedringhaus, an die man manchmal sehr nahe mit der Kamera herankommt. Und – zum Verständnis ihrer Arbeiten ist das sehr wichtig – man muss, als Fotograf wie als Reporter, ganz einfach Freude an seiner Arbeit und an der Begegnung mit den Fremden und dem Anderen haben. Auch hier wieder die Nähe zu Ryszard Kapuściński, der einmal die Begegnung mit dem Anderen als eine der „großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet hat. Und in dieser Herausforderung  übernimmt der Text- wie der Bildjournalismus eine wichtige Verantwortung.

„Wie desillusionierend wenige Menschen verfügen über eine eigene Vision der Dinge“, hat Alfred Stieglitz, einer der großen Lehrer der modernen Fotografie Anfang des vergangenen Jahrhunderts geschrieben, „wie wenige von ihnen wissen wirklich zu sehen, und wie inhaltsleer sind viele Fotografien.“

Heute, ein gutes Jahrhundert später und in einer Zeit, in der es vollkommen gleichgültig geworden scheint, wen oder was man mit seinen Handy-Kameras wie oft und warum knipst – vornehmlich natürlich sich selber –,  ist es vielleicht wieder wichtiger, weniger über die neuesten Entwicklungen auf dem Foto- und Smartphonemarkt wissen zu wollen, sondern ganz einfach das Sehen zu lernen, wieder zu lernen, neu zu lernen. Besonders die Schulen und die Einrichtungen der Erwachsenenbildung haben hier eine wichtige Aufgabe.

Die Arbeiten von Anja Niedringhaus können uns Anstöße geben, wieder dieses detailgenaue Wahrnehmen, das den Anderen, seine Kultur, seine Religion, respektierende, geduldige Sehen zu lernen.  Nicht, um sie zu übernehmen, um sich ihr kritiklos anzupassen, sondern um die eigene kulturelle Identität zu befragen und zu bereichern.

Hugo von Hofmannsthal, den im Zusammenhang mit den hier ausgestellten Bildern zu zitieren vielleicht überrascht, hat einmal geschrieben, „dass wir lernen müssen, das zu lesen, was nie geschrieben wurde.“ Geschrieben hat meines Wissens Anja Niedringhaus nur wenig, aber sie hat uns trotzdem sehr viel zu lesen hinterlassen.

Wie gerne hätte ich mit der so welterfahrenen, trotz oder wegen aller Gewalterfahrung immer auch nach Hoffnungsmotiven und kleinen Alltagsutopien suchenden Anja Niedringhaus diese Gedanken einmal persönlich ausgetauscht. Durch ihren frühzeitigen Tod bleiben jetzt nur noch die  Gespräche unter uns Journalisten, Fotografen und ihren Freunden über ihre Arbeit, die sie uns als ihre Erbschaft geschenkt hat. Vielleicht sind uns dabei auch Gespräche mit anderen Fotografinnen, die sie noch als Kollegin gekannt haben, hilfreich. In einem Gespräch mit der „taz“ wurde etwa die amerikanische Kriegsfotografin Andrea Bruce nach dem Tod von Anja Niedringhaus gefragt, ob sie Angst empfinde, wenn sie da draußen, also in den „Killing Fields“ unserer Zeit, auf sich gestellt sei. „Ebenso wie Anja hätte auch ich in diesem Auto sitzen können, um über die Wahlen in Afghanistan zu berichten. Ich werde auch weiterhin von Kriegen berichten. Es geht gar nicht anders. Wir müssen die Menschen informieren. Wir müssen diese Bilder sehen. Was geschieht, muss sichtbar sein.“ Wie hatte es noch Bourke White formuliert: „Aber ich gehe wieder hinaus, weil ich der Überzeugung bin, dass es mein Auftrag ist, solche Bilder zu machen. Die reine Wahrheit ist das Wesentliche, und die ist es, die mich anrührt, wenn ich durch meine Kamera sehe.“

Ob es die „reine Wahrheit“ ist, die wir in den hier ausgestellten Bildern und den vielen anderen Bildern sehen, muss jeder Besucher selber beurteilen. Aber Anja Niedringhaus hat uns mit ihren Bildern immer an die Realitäten dieser Welt herangeführt. Eine Welt, in der oft Gewalt, Verzweiflung, Brutalität und Hoffnungslosigkeit direkt neben Ermutigung, Lebensfreude, Schönheit und Spiel zu finden sind. Der Wahrheit des Lebens kam sie damit jedenfalls sehr nahe.

Neue Bilder von Anja Niedringhaus wird es nicht geben, aber wir sollten uns die Zeit nehmen, das „nicht geschriebene Werk“ von ihr sorgfältig zu lesen.

Carl Wilhelm Macke

(Mit freundlicher Genehmigung von Carl Wilhelm Macke, „Journalisten helfen Journalisten“)

error: Der Inhalt ist geschützt !!