Ihre Bilder gingen um die Welt. Ihrer Heimatstadt Höxter, in der sie 1965 geboren wurde, ist Anja Niedringhaus immer verbunden geblieben. 2014 wurde sie in Afghanistan bei einem Attentat erschossen.
Die Menschen im Blick
Zum Gedenken an die Fotografin Anja Niedringhaus
„Wir haben so gelacht“, berichtet Kathy Gannon über die Augenblicke, bevor die Schüsse fielen, die ein Journalistenleben auslöschten. Trotz allen Leids, das sie dokumentierte, hatte sich Anja Niedringhaus die Fähigkeit zu lachen bewahrt. „Wenn einer denkt, wir hätten da nur geheult – nein“, sagte sie in einem Interview für das Buch „Bilderkrieger“ über ihren Einsatz vor 22 Jahren im Jugoslawienkrieg, „ich habe viel Humor gesehen, viel schwarzen Humor, den ich liebe, viel Hoffnung und eine Ehrlichkeit, eine Direktheit, weil man ja weiß, am nächsten Tag kann alles zu Ende sein“.
»Den einen Wassertropfen im Meer, der für einen bestimmt ist,
den findet man nur einmal im Leben.«
Hope Lehman
Ihr Leben endete am 4. April 2014 in Banda Khel in der Provinz Chost im Osten von Afghanistan. „I’m so happy“, sei einer von Anjas letzten Sätzen gewesen, erinnert sich die Kollegin, die mit ihr im Fond des Autos saß, als der afghanische Polizist das Feuer eröffnete. Während die kanadische Reporterin den Attentäter kommen sah und die Arme hochriss, war die aus Höxter stammende Bildjournalistin arglos, als die Schüsse aus dem Kalaschnikow-Sturmgewehr sie in den Kopf trafen. Kathy Gannon (60) wurde schwer verletzt. Anja Niedringhaus (48) bezahlte ihren Einsatz für die Menschen in Afghanistan und an anderen Orten der Welt, wo Krieg den Alltag bestimmt, mit dem Leben.
Sie waren ein erfahrenes Team, beide seit Jahren im Einsatz für die amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press. Von Kathy Gannon, die seit über 25 Jahren in der Region lebe und mit einem Pakistani verheiratet sei, habe sie viel über Afghanistan, das Land und seine Kultur, gelernt, sagte Anja Niedringhaus einmal. „Wir haben uns irgendwie gesucht und gefunden.“ Der Wagen mit den beiden Frauen gehörte zu einem Konvoi aus afghanischen Sicherheitskräften und Wahlhelfern, die Stimmzettel auslieferten. Die Fotografin war glücklich, weil sie entschieden hatte, welche Motive für die Berichterstattung über die bevorstehende Präsidentenwahl in Afghanistan ihr wichtig waren und wann sie die Bilder verschicken wollte. Sie machte ihren Job, und sie machte nicht viel Aufhebens davon. Sie machte ihn gut. So gut, dass sie dafür hohe Auszeichnungen erhielt.
Unter den Unterlagen, die nach ihrem Tod gesichtet wurden, befand sich ein Zettel mit einer handschriftlichen Notiz: „Den einen Wassertropfen im Meer, der für einen bestimmt ist, den findet man nur einmal im Leben.“ Es ist ein Zitat der Ärztin Hope Bridges Adams Lehmann, die als erste Frau in Deutschland ein Medizinstudium mit dem Staatsexamen abschloss und sich einen bis dahin Männern vorbehaltenen Beruf erkämpfte. Auch Anja Niedringhaus erkämpfte sich ihre Position in einem Bereich, der bis heute als Domäne der Männer gilt. Sie schaffte es bis an die Spitze. Früh wusste sie, was sie wollte. Als sie sieben Jahre alt war, zeigte ihr der Großvater einen Globus. Ihre Heimatstadt Höxter konnte sie, so sehr sie sich auch bemühte, darauf nicht entdecken. „Dies war der Moment, in dem mir klar wurde, wie groß die Welt ist.“ Sie wollte die Welt sehen, mit eigenen Augen. Und sie wollte das, was sie sah, mit der Kamera festhalten.
Schon während der Schulzeit in Höxter hatte sie sich das feste Ziel gesetzt: „Ich wollte Fotografin werden, seit ich zwölf bin.“ Ihre erste Kamera war der alte Fotoapparat ihres Opas. Ein örtliches Fotogeschäft ermöglichte es ihr dann, eine Kameraausrüstung, die professionellen Ansprüchen genügte, in Raten von 50 Mark monatlich abzubezahlen. Jahre später bedankte sie sich dafür mit dem signierten Bildband „At War“, der eine Auswahl ihrer Aufnahmen aus Kriegsgebieten enthält.
Anfangs fotografierte sie für die Schülerzeitung des König-Wilhelm-Gymnasiums, bei einer Skifreizeit zum Beispiel. Bärbel Werzmirzowsky – damals Nachbarin, heute Geschäftsführerin der Jacob Pins Gesellschaft in Höxter – sah ihre Bilder und empfahl die junge Fotografin der Neuen Westfälischen. 17 Jahre war sie alt, als sie den Auftrag erhielt, über die Verabschiedung eines verdienten Rathausmitarbeiters in Bad Driburg zu berichten. Den Schlüssel für das Redaktionsauto könne sie sich abholen. Als Segelfliegerin hatte sie häufig den Wagen mit der Winde über das Flugplatzgelände gefahren. Also setzte sie sich ins Auto und fuhr nach Bad Driburg, 30 Kilometer hin und dieselbe Strecke zurück. „Mir war schlecht vor Aufregung. Ich dachte, wenn ich jetzt absage, rufen die nie wieder an. Aber alles klappte, das Foto erschien sogar auf der Seite 1, und von da an war ich freie Mitarbeiterin.“
Nach dem Abitur 1986 am KWG ging sie für die Kindernothilfe nach Indien, bevor sie in Göttingen Germanistik, Philosophie und Journalismus studierte und nebenbei freiberuflich für das Göttinger Tageblatt und für dpa arbeitete. Bald habe sie erkannt, dass sie mit Bildern mehr sagen könne als mit Worten, blickte sie zurück, als sie 2005 den „Courage in Journalism Award“ der Internationalen Stiftung für Frauen in den Medien (IWMF) erhielt. Ihre Aufnahmen vom Berliner Mauerfall waren ausschlaggebend dafür, dass die European Press Photo Agency (EPA) sie 1990 als erste Frau fest anstellte. Als der Krieg in Exjugoslawien ausbrach, war sie 26 Jahre alt. „Ich will da hin“, habe sie zu ihrem Chefredakteur gesagt. „Der dachte, ich spinne.“ Sechs Wochen lang habe sie ihm jeden Tag einen Brief auf der Schreibmaschine geschrieben, bis er endlich sagte: „Na, dann fahr.“
„Er und meine Kollegen waren sicher, die Niedringhaus ruft nach zwei Tagen an und will wieder zurück. Ich blieb fünf Wochen am Stück. Insgesamt habe ich dann fünf Jahre in Sarajewo verbracht“, erzählte die Fotojournalistin im Gespräch mit Michael Kamber, der das Interview für „Bilderkrieger“ führte. 2002 wechselte Niedringhaus zur US-Nachrichtenagentur AP, für die sie aus dem Gazastreifen, aus Israel, Kuwait und der Türkei, aus Libyen, Pakistan und Afghanistan berichtete. Sie fotografierte die Schlacht um Falludscha, die Bombenanschläge auf die Zentrale des Internationalen Roten Kreuzes in Bagdad, im Gefängnis Abu-Ghuraib, beim G-8-Gipfel in Genf, beim Terroranschlag in Madrid, aber auch bei Fußballmeisterschaften, Olympischen Spielen und immer wieder in Wimbledon. Kriegsfotografin wollte sie nicht genannt werden. Auf Twitter unterstrich sie die Aussage ihres Kollegen Don McCullin, er hasse diesen Titel, mit dem Zusatz „so true“ (so wahr).
„Ich fotografiere, was in der Welt passiert“, betonte sie. Sie arbeite ja nicht nur in Kriegs- und Krisengebieten, sondern auch viel im Sport, „am liebsten Leichtathletik und Tennis“. Wenn man länger im Irak oder in Afghanistan arbeite, sei es wichtig, „auch mal Abstand zu gewinnen, einen anderen Blick“. Manchmal sei der Kontrast hart. Zu einem Wimbledon-Turnier sei sie direkt von einer Reportage mit amerikanischen MedEvac-Einheiten aus Afghanistan gekommen. „Eben noch im Hubschrauber die Toten und Verletzten aus den Kampfgebieten ausfliegen, morgens um sechs in die Maschine nach London, nachmittags auf dem Center Court. Da habe ich gedacht: ,Sticht mich mal einer!‘ “ Durch die Sportfotografie habe sie viel für die Kriegsberichterstattung gelernt. Für beide Tätigkeitsbereiche gelte, dass oft Bruchteile von Sekunden zählten.
Der Sport war ein Gegenpol zum Krieg wie auch die Aufenthalte an ihren Wohnsitzen in Genf und Kaufungen bei Kassel. Mit ihrer Schwester und deren Familie hatte sie ein altes Forsthaus umgebaut. Dort genoss sie das Leben in der Natur, mit Tieren, mit den Nichten und Neffen. Auf eigene Kinder hatte sie bewusst verzichtet: „Soll ich ihnen sagen, Mutti ist mal eben in Libyen?“
Immer wieder zog es sie nach Afghanistan. „Ich habe mich ein bisschen in das Land verliebt. Das sind wunderbare Menschen dort“, sagte sie. Mit ihren Bildern wolle sie dazu beitragen, „dass wir ihr Leben und ihre Kultur besser verstehen lernen“. Sie sei „nicht auf der Suche nach diesem Bäng-Bäng“, sagte sie 2011 in einem Interview des Deutschlandradio Kultur, weil sie glaube, dass andere Fotos viel mehr aussagen – „wenn man zeigen kann, wie Zivilisten jahrelang in einem Krieg weiterleben können, wie die ihr tägliches Leben halt organisieren“.
Immer stand sie auf der Seite der Opfer, die das wahre Gesicht des Krieges zeigen. Beeindruckt von den Fähigkeiten der Menschen, die von den Folgen der Kriege betroffen sind, dokumentierte sie Alltag unter Bedingungen, die Alltägliches absurd erscheinen lassen. Den Jungen auf dem Kettenkarussell, der eine Spielzeug-MP durch die Luft schwingt. Männer, die Totenwache am Straßenrand halten. Frauen, die ihre Kinder aus brennenden Dörfern tragen. Einfühlungsvermögen und Respekt für die Leidtragenden der Konflikte kennzeichnen ihre Bilder, die nicht nur das Verstörende zeigen, sondern auch poetische Impressionen aus einer für europäische Augen fremdartigen Welt.
Die besondere Qualität ihrer Aufnahmen, die über den dokumentarischen Wert hinaus Emotionen transportieren und komplexe Geschichten erzählen, wurde 2011 mit der Verleihung des Abisag-Tüllmann-Preises für künstlerischen Fotojournalismus gewürdigt. Mit Mut und großer Sensibilität gelinge es der Fotografin, „trotz Angst und Schrecken das Humane im Bild zu finden und festzuhalten“, urteilte die Jury.
Mit schlichten Worten begründete Niedringhaus, warum sie eine Arbeit auf sich nahm, der nur wenige gewachsen sind: „Man versucht das aufzunehmen, zu fotografieren, was man sieht, um stellvertretend für tausende andere Menschen zu berichten, was in so einem Krieg passiert.“ Sie verstand sich als Zeitzeugin: „Wenn ich es nicht fotografiere, wird es nicht bekannt.“ Durch ihre Arbeit in den Kriegsgebieten sei sie zur Pazifistin geworden. „Mit Panzern löst man keine Probleme.“
Was sie antrieb, war der Impuls, die Wahrheit zu entlarven. Wenn offizielle Stellen den Zugang zu Informationen und Orten einschränken wollten, gab sie sich nicht zufrieden. Im September 2009 war sie die erste, die ein Bild von den Tanklastwagen in Kundus machte, die auf Befehl des deutschen Oberst Georg Klein bombardiert worden waren. Gelegentlich machte sie sich lustig über die deutschen Presseoffiziere, die ihr lieber eine Kapelle im Feldlager zeigen wollten, als sie auf eine Patrouille mitfahren zu lassen.
Ihr Arbeitsgerät bedeute für sie auch Schutz, weil es Distanz schaffe: „Ich bin froh, dass ich eine Kamera habe, die mir da einen gewissen Abstand vermitteln kann oder auch ’ne Sicherheit. Wo ich mich konzentrieren kann. Manchmal, wenn man die Kamera absetzt, dann ist das schon viel schwieriger zu verarbeiten.“ Es gab Situationen, in denen sie die Kamera absetzte, um unmittelbar Hilfe zu leisten. In Sarajewo fuhr sie Verletzte ins Krankenhaus. Erst hinterher kam ihr der Gedanke: „Du hast ja gar keine Fotos.“
Die Gefahren ihrer Arbeit waren ihr bewusst. Mehrfach entging sie dem Tod nur knapp. „Das passiert – wenn man sich jahrelang in diesen Gebieten bewegt, muss man damit rechnen“, kommentierte sie ihre Verletzung bei einer Granatenexplosion im Süden Afghanistans. „Ich habe bisher immer sehr viel Glück gehabt und hoffe, dass ich das auch weiterhin habe“, wünschte sie sich damals. Wenn gute Kollegen starben, sagte sie in einem ihrer letzten Interviews, frage sie sich, „ob es das wert ist“. Sie fügte hinzu: „Aber keiner der Freunde, die ich verloren habe, würde sagen ,Hör auf damit!‘. Keiner.“ Sie hätte „nichts anderes machen wollen“, hielt sie an ihrer Aufgabe fest. „Ich würde mich als sehr glücklich bezeichnen.“
„Mit Anja konnte man nicht traurig sein“, sagte ein AP-Kollege gegenüber der Neuen Westfälischen. Ihr Sinn für Spaß half ihr, das Grauen des Krieges zu verkraften. Einmal fuhr sie mit Kathy Gannon im Taxi auf einer der gefährlichsten Straßen Afghanistans. Die beiden Frauen hatten sich landesüblich gekleidet. Die Zeit hätten sie sich damit vertrieben, auszuprobieren, ob man unter der Burka rauchen könne, erzählte Niedringhaus lachend.
Im Kollegenkreis genoss sie außerordentliches Ansehen. „Anja war die härteste Konkurrenz, die man haben konnte“, sagte Kai Pfaffenbach, Fotograf bei der Agentur Reuters, im Interview mit der Frankfurter Neuen Presse. „Egal ob beim Tennis in Wimbledon oder bei Olympia. Es war Motivation gegen sie anzutreten und zu sagen, heute mache ich das bessere Bild. Sie war dann trotz der Konkurrenz die erste, die kam, ,geiles Bild‘ sagte und einem auf die Schulter klopfte.“ In ihrem Bereich sei sie „die beste Fotografin der Welt“ gewesen, „keiner konnte ihr das Wasser reichen“.
Für ihre Berichterstattung aus dem Irak erhielt sie 2005 – als erste deutsche Frau – gemeinsam mit neun AP-Kollegen den „Oscar der Journalisten“, den Pulitzer-Preis. Vielfach wurden ihre Arbeiten ausgestellt, so im Museum für Moderne Kunst Frankfurt, im Kasseler Kunstverein, im Internationalen Forum für Visuelle Dialoge C/O Berlin, im Museum of Fine Arts in Houston. 2013 zeigten das Forum Jacob Pins in Höxter und der Kulturverein ARTD Driburg in der Burg Dringenberg parallel die Ausstellungen „Anja Niedringhaus at war“ und „Anja Niedringhaus at sports“.
Der Tod der prominenten Fotojournalistin löste weltweit Bestürzung und Trauer aus. Aus New York und London, aus Kabul und Berlin kamen Kollegen und Wegbegleiter nach Höxter, um gemeinsam mit Familie und Freunden in der Corveyer Abteikirche Abschied von Anja Niedringhaus zu nehmen. Für den Grabstein auf dem Friedhof am Wall wählten ihre Angehörigen ein Foto aus, das sie lachend mit Kamera zeigt. Sie selbst hatte einmal den Wunsch geäußert, in Höxter begraben zu werden.
An der Verbindung zu der Stadt, in der sie 1965 geboren wurde, in der sie als mittlere von drei Schwestern aufwuchs und in deren Goldenes Buch sie sich 2006 eintrug, lag ihr viel. Anlässlich der Verleihung des Medienpreises „Goldene Feder“ für herausragende Reportagen als Frau in Krisengebieten sagte sie 2008 im Gespräch mit der Neuen Westfälischen: „Gerade wenn jemand wie ich vorwiegend im Ausland tätig ist, tut es doch richtig gut, in der Heimat nicht vergessen zu werden.“
Anja Niedringhaus wird unvergessen bleiben. Dafür sorgen ihre Bilder. Dafür sorgt auch der Anja-Niedringhaus-Preis für Mut im Fotojournalismus, den die IWMF ins Leben rief. Er soll jährlich vergeben werden an Fotojournalistinnen, die mit ihrer Arbeit in die Fussstapfen von Anja Niedringhaus treten. Initiiert wurde der Preis durch eine Zuwendung in Höhe von 1 Mio. US-Dollar aus der Stiftung von Howard Graham Buffett. Er ist der Sohn des amerikanischen Milliardärs und Mäzens Warren Buffett, der Anja Niedringhaus – beeindruckt von ihrer Persönlichkeit und ihrer Arbeit – in sein Haus in Omaha/Nebraska einlud und ihr 2007 ein akademisches Jahr im Rahmen des prestigereichen Nieman-Programms an der Harvard Universität finanzierte.
Philanthrop H. G. Buffett, selbst Fotograf, wandte sich an die IWMF mit den Worten: „Für mich war Anja eine Freundin und ein Vorbild des Fotojournalismus. Mit der Einführung dieses Preises wollen wir sicherstellen, dass Anjas Arbeit fortgesetzt wird. Ihre Stimme mag zum Schweigen gebracht worden sein, aber wir hoffen damit die Stimmen derer zu verstärken, die ihre Hingabe teilen.“
Christine Longère im Jahrbuch des Kreises Höxter 2015